Es war eine weitsichtige Entscheidung von Kardinal Joseph Ratzinger, den Neubau des Münchener Priesterseminars an der Georgenstraße in den 1980er-Jahren Johannes dem Täufer als Patron anzuvertrauen. Johannes ist nicht System, sondern Theologie; er ist nicht Bestätigung, sondern Herausforderung. Sein Verhältnis zu Jesus Christus gibt für das Priestertum eine beeindruckend aktuelle Blaupause vor.

Augustinus hat in Sermo 293 den Vergleich von Johannes dem Täufer und Jesus anhand zweier biblischer Zentralbegriffe durchgespielt: Jesus ist dem Johannesprolog zufolge das „Wort“, der Täufer wird in Mt 3,3 als die „Stimme“ benannt, die für den Herrn spricht. Augustinus zeigt nun auf, wie die beiden aufeinander verwiesen sind. Ewigkeit und Zeit, Inhalt und Botschaft des Klangs, Bestehen und Vergänglichkeit, Person und Vorausbild sind die vier Vergleichsstränge, die der Bischof von Hippo zwischen dem Täufer und dem Herrn zieht. Sie lassen sich nahezu unmitelbar auf auf den priesterlichen Dienst übertragen.

Zeit und Ewigkeit sind die beiden Pole, zwischen denen sich der priesterliche Dienst bewegt. „Johannes war die Stimme in die Zeit hinein, Christus das ewige Wort im Anfang.“ (augustinus.it/latino/discorsi/discorso_407_testo; Übersetzung W. Lehner). Er gehört zu dieser Welt und ist doch nicht von ihr: „Zwischen Blut und Geist, zwischen Bios und Logos ist der Mensch so eingespannt, dass er sowohl beiden Bereichen zugehört als auch in keinem der beiden Bereiche wahrhaft ansässig ist“ (Peter Wust, Ungewissheit und Wagnis, München 1946, 42). Die Unterschiedlichkeit der Priesterbilder resultiert aus der jeweiligen Betonung mal des einen, mal des anderen Pols: vom sakramentalen Heilsmittler, der sich nahezu entpersonalisiert auf die reine Liturgie zurückzieht, bis hin zum beziehungsstarken Streetworker, der im Arbeiterpriester sein Ideal sieht, reicht die Spannweite bis in die Gegenwart und sorgt für die entsprechenden Diskussionen zur Interpretation des Priestertums: Löst sich der Priester in nur einen der beiden Pole hinein auf, verfehlt er seinen Auftrag, sie miteinander zu verbinden. Die oft so sehr belastende Unterschiedlichkeit des Presbyteriums ist unter diesem Aspekt  nicht nur notwendige Voraussetzung, um fruchtbar Dienst tun zu können, sondern in ihrer Ganzheit Wesensbeschreibung des Priestertums. Wehe der Kirche, in der einer dieser Pole entfiele.

Die untrennbare Rückbindung des Priesters auf Jesus Christus formuliert Augustinus so: „Nimm das Wort weg, was ist da noch die Stimme? Wo kein Inhalt ist, bleibt leerer Lärm.“ Zahlreiche Priesterkarikaturen werden auf genau der Wahrnehmung konstruiert, dass Priester sich zwar präsentieren, aber keine Botschaft haben. Die digitale Revolution auf sozialen Netzwerken verstärkt diese Gefahr insofern, als die Inhaltslosigkeit zum Lifestyle erklärt wird: Blogger, Youtuber und Influencer haben oft nicht viel zu sagen, außer sich selbst in Szene zu setzen, erreichen aber enorme Klickzahlen. Grund für dieses Phänomen ist die völlige Trennung von Sach- und und Beziehungsebene: Sofern eine Beziehung nur ästhetisch ansprechend gestaltet ist, braucht sie keinerlei Inhalt mehr. Liturgie und Verkündigung droht auf dieselbe Ebene herabzugleiten, deren Endstufe – überspitzt formuliert – dann die wechselseitige Bewunderung ist und die Feststellung, dass alle so bleiben dürfen wie sie sind. Damit wäre so ziemlich das Gegenteil der Täuferbotschaft erreicht. Ein Priester, der seine Verkündigung nicht konsequent an die Gestalt Jesu Christi in der ganzen Bandbreite ihrer Botschaft rückbindet, droht, zur Lärmmaschine zu werden, die zunächst einladend und persönlich wirkt, die am Ende dann aber nur noch nervt.

Diese Spannung konsequent durchzuhalten, ist anspruchsvoll, weil sie die eigenen Ideen hinanstellen muss: „Willst du die vorübergehende Stimme und die verbleibende Herrlichkeit des Wortes sehen? Wo ist die Taufe des Johannes denn jetzt? Sie hat ihren Auftrag erfüllt und ist vergangen.“ Pastoral ist nicht Inhalt, sondern nur Methodik. Gemeinde ist nicht Selbstzweck, sondern Wegweisung. Strukturen sind vergänglich, die Stimme vergeht. Diese Erkenntnis kann zu mehrerlei Arten geistlicher Verbitterung führen: Nicht jeder Priester, der sich voll und ganz für das Evangelium einsetzt, bekommt Frucht zu sehen. Aber jeder erlebt, dass seine Stimme „vorübergehend“ ist, in kleinen wie in großen biographischen Zyklen. Viele Priester erleiden eine Art Altersverbitterung oder geraten in einen späten Zorn, weil sie bemerken, dass sie ihre Lebensideale nicht umsetzen konnten oder dass sich die Themen seit Jahrzehnten nicht ändern, aber ihr Einfluss geringer wird. Der ausbleibende Erfolg führt in diese Verbitterung. Dasselbe Phänomen gilt auch auf systemischer Ebene: Pfarreien und kirchliche Strukturen sind nicht Inhalt, sondern Methode. Die Kategorienverwechslung führt nun zum seltsamen Phänomen strukturkonservativer Ansichten gerade bei fortschrittlichen Katholiken, die strukturell angewandte Aussage des Augustinus als massive Selbstanfrage erleben: „Sie hat ihren Auftrag erfüllt und ist vergangen.“ Hier wird noch erhebliche Trauerarbeit zu leisten sein, um sich von lieb Gewordenem zu lösen, das doch nur sekundär ist.

Augustinus schließt mit der größten Gefahr, die für Johannes wie für die Priester droht: Die Fremd- oder Selbstverwechslung. „Doch weil es schwierig ist, das Wort von der Stimme zu unterscheiden, ist selbst Johannes für Christus gehalten worden. Die Stimme wurde als das Wort angesehen. Doch die Stimme verleugnete sich, um nicht dem Wort im Weg zu stehen.“ Eine der großen gegenwärtigen Diskussionen um den Priester verhandelt seine vermeintliche Sakralisierung als Quelle von Machtmissbrauch. Für unreife Persönlichkeiten ist das Priestertum zweifellos aus dem Potential zum „Ich bin es“ heraus attraktiv. Das Priestertum insgesamt lediglich aus dem Blickwinkel der Machteffekte heraus zu sehen, wie es derzeit Mode ist, bedeutet seine Enttheologisierung und zielt damit nicht nur auf seine Abschaffung einschließlich des Bischofs- und Diakonenamts, sondern auf die Legitimität theologischer Aussagen insgesamt. So entzünden sich am Priestertum derzeit die großen Fragen rund um Offenbarung und Theologie als wissenschaftliche Disziplin. Sie werden so schnell nicht beantwortet werden. Für den einzelnen Priester, für das Presbyterium insgesamt bleibt als vorläufige Antwort nur die lebenspraktische Haltung des johanneischen: „Ich  bin es nicht“; die Haltung der Demut, der Einordnung in die lebendige Gemeinschaft aller Gläubigen sowie zur Fähigkeit zu Selbstreflexion und Korrektur. Sie kann aber nicht als moralischer Gestus, sondern nur aus einem wahrhaftigen geistlichen Leben realisiert werden.

Für ein Priesterseminar ist Johannes der Täufer damit ein sehr zeitgemäßer Patron: In seinem Leben und Wirken sind sämtliche Herausforderungen der Gegenwart beeindruckend vorgezeichnet; für uns gilt es nicht, ihn nachzahmen, sondern seine Botschaft weiter zu leben.