Erstellt am 9. Oktober 2025 von Sebastian Lechler

Auf dem Jakobsweg – Gottes Nähe in der Stille finden

Die Schritte schmerzen und mein Rucksack lastet schwer auf meinen Schultern. Jeder Tritt erinnert mich an die Anstrengung der vergangenen Wochen. Mit müden Füßen gehe ich durch einen Eukalyptuswald, umgeben von diesem unverwechselbaren, frischen Duft, der die Schwere meiner Glieder für einen Moment vergessen lässt. Sonnenstrahlen brechen durch die Baumkronen und zeichnen helle Bahnen auf den Weg vor mir. In der Ferne rauscht das Meer, ein gleichmäßiger Klang, der alles andere zum Schweigen bringt. Ein Moment der Stille. Kein Mensch ist zu sehen, nur ich, der Wald, das Meer – und in dieser Stille spüre ich plötzlich etwas Größeres, als würde Gott selbst in diesem Augenblick an meiner Seite gehen.

Vor meinem Eintritt in das Priesterseminar war ich vier Wochen auf Pilgerreise auf dem Jakobsweg in Spanien. Von Bilbao aus bin ich entlang der Nordküste Spaniens bis an das Grab des Hl. Jakobus des Älteren in Santiago de Compostela gewandert. Dabei habe ich gelernt, dass Gotteserfahrung nicht zwingend ein überwältigendes, übernatürliches Ereignis braucht. Sie offenbart sich vielmehr in der Stille, im achtsamen Hören auf das, was mich umgibt, und im aufmerksamen Wahrnehmen dessen, was in mir selbst lebendig ist.

Der Jakobsweg, auch „Camino de Santiago“ genannt, ist einer der bedeutendsten christlichen Pilgerwege Europas. Sein Ursprung reicht ins 9. Jahrhundert zurück, als das Grab des Apostels Jakobus des Älteren im spanischen Santiago de Compostela entdeckt wurde. Bald entwickelte sich der Weg zu einem spirituellen und kulturellen Netz von Routen, die quer durch Europa nach Galicien führen. Im Mittelalter war die Wallfahrt dorthin neben Rom und Jerusalem eines der wichtigsten Ziele der Christenheit. Über Jahrhunderte hinweg pilgerten Menschen aus allen Schichten dorthin – aus Buße, aus Glaubensgründen oder auf der Suche nach Sinn. Spätestens seit Hape Kerkelings Bestsellers „Ich bin dann mal weg“ ist der Jakobsweg hierzulande nicht nur Christen ein Begriff. Heute ist er für Menschen aus aller Welt ein Ziel der spirituellen Erfahrung wie auch ein Ort der Begegnung, an dem Tradition und persönliche Sinnsuche zusammenkommen.

Die Suche nach dem Sinn des Lebens und nach Gott ist etwas grundlegend Menschliches. Der Katechismus der Katholischen Kirche beschreibt: „Das Verlangen nach Gott ist dem Menschen ins Herz geschrieben, denn der Mensch ist von Gott und für Gott erschaffen“ (KKK, Kap. 1, Absatz 27). Momente des Einsseins mit Gott begegnen jedem Menschen – etwa im Urlaub, wenn man still sitzt und sich plötzlich mit sich selbst und der Welt im Einklang fühlt. Aber auch beim Anblick der Natur oder in der Stille. In solchem Erleben ist der Mensch mit Gott verbunden, denn dieses Gefühl umfasst das Ganze des Seins. Um diese leisen Impulse wahrzunehmen, braucht es jedoch Achtsamkeit und Offenheit. Im Antlitz eines Menschen, in einer Blume, in Musik, in Meditation, im Gebet oder im Lesen der Heiligen Schrift kann sich Gottes Nähe zeigen. Erzwingen lässt sich diese Erfahrung nicht, aber wer aufmerksam lebt, wird sensibler für seine Gegenwart.

Ich bin dankbar für meine Pilgerreise und für alle Erfahrungen und Begegnungen, die ich währenddessen erleben durfte. Das Besondere ist, dass man nicht von moderner Technik geleitet wird.  Auf dem Jakobsweg folgt man einem gelben Pfeil, der sich an jeder Ecke befindet. Es ist eine gute Möglichkeit, um Abstand zugewinnen vom Handy, den sozialen Medien, der Schnelllebigkeit der modernen Welt. Um Gott zu erfahren, muss man jedoch nicht wochenlang durch Spanien wandern. „Gott ist überall. Und er ist da, wo wir ihn in unser Herz einlassen“ (Anselm Grün. Das Buch der Antworten. Herder, 2011).