Erstellt am 28. April 2023 von Bernhard Stürber

Stille und Schweigen in der Liturgie

Im Glauben und damit im Gottesdienst der Kirche kann mit Worten nicht alles gesagt werden. Es braucht Erfahrungen, die die Sprache übersteigen. Gesang und Musik müssen als Resonanzraum hinzutreten für das zu feiernde Geheimnis des Glaubens. Mindestens ebenso große Bedeutung haben die Stille und das Schweigen als Orte der Verinnerlichung und Ruhe. Insofern ist es fast ein wenig verwunderlich, wenn die Liturgiekonstitution des II. Vatikanischen Konzils in nur einem Satz festhält: „Auch das heilige Schweigen soll zu seiner Zeit eingehalten werden“ (SC 30).

Die Bedeutung von Stille und Schweigen in der Liturgie kann nicht überschätzt werden, auch wenn beides für viele Menschen heute eine Herausforderung darstellt. Die permanente mediale Reizüberflutung macht es vielen schwer, Stille auszuhalten. Eine längere Besinnungsstille etwa in einem Bußgottesdienst ist kaum mehr möglich, ohne dass jemand durch Hüsteln seine Ungeduld zum Ausdruck bringt. Andererseits sehnen sich viele Menschen nach Ruhe und Stille. Eine ganze Psycho-Industrie bietet dafür ihre Dienste an. In diesem Dilemma steht der Gottesdienst.

Wenigstens einige bewusste Momente der Stille dürfen in keinem Gottesdienst fehlen. Auf die Bedeutung der Stille hat jüngst Papst Franziskus in seinem Apostolischen Schreiben „Desiderio desideravi“ hingewiesen: „Sie (die Stille) ist das Symbol für die Anwesenheit und das Wirken des Heiligen Geistes, der die gesamte feierliche Handlung belebt, weshalb sie oft den Höhepunkt einer rituellen Handlung darstellt. Gerade weil sie ein Symbol des Geistes ist, hat sie die Kraft, sein vielgestaltiges Wirken auszudrücken.“ Stille ist nach den Worten des Papstes also notwendig, um die geist‑liche Dimension der Liturgie erfahren zu können. Man könnte demzufolge sagen, das natürliche Klima unserer Liturgien ist die Stille.

Zwei Arten von Stille sind in den liturgischen Büchern für den Gottesdienst vorgesehen, die voneinander nicht streng unterschieden werden müssen, sondern miteinander in Verbindung stehen. Im Folgenden werden diese beiden Formen kurz am Beispiel der Hl. Messe betrachtet.

Das sammelnde Schweigen

Wer die Liturgie geistlich fruchtbar mitfeiern will, muss sich innerlich sammeln und die „Antennen auf Empfang stellen“, fokussieren würde man heute auch sagen. Dafür braucht es Stillemomente. Ein solcher Moment ist vor dem Bußakt vorgesehen. Bevor das Schuldbekenntnis gesprochen wird, soll ein Raum geöffnet werden, in dem die Gläubigen auf ihr Versagen, auf Sünde und Schuld blicken können, um dieses dann vor Gott zu tragen. Eine kurze Stille kann auch nach dem Hören der Lesungen sinnvoll sein. In der „Grundordnung des Römischen Messbuchs“ heißt es dazu: „Danach kann gegebenenfalls eine kurze Stille gehalten werden, damit alle das Gehörte bedenken.“ (Nr. 128) In unseren Breitengraden wird dies kaum praktiziert. Meist begnügt man sich mit einer längeren Stille nach der Predigt.

Immer wieder berichten Lektorinnen und Lektoren davon, dass sie angehalten werden, noch während des Tagesgebets zum Ambo zu gehen, damit sofort nach dem Amen des Gebets die Lesung beginnen kann. Solche Stille-Vermeidungsstrategien, wie sie in Fernsehshows praktiziert werden, sind für den Gottesdienst kontraproduktiv, ist er seinem Wesen nach doch eine Gegenwirklichkeit zu den beschleunigten Sprachwelten der Medien. Er muss ein Ort der Verinnerlichung und Ruhe sein. Von daher verbietet sich alle Eile und geschäftige organisierte „Pausenlosigkeit“.

Das betende Schweigen

Dieses ist eine Art gefülltes Schweigen vor Gott, in dem wir zu Gott rufen, ihm danken oder in seiner Gegenwart verweilen. Ein solches Schweigen ist etwa vorgesehen beim Tagesgebet nach der Gebetseinladung „Lasset uns beten“. In einer Stille, die nicht zu kurz ausfallen darf, soll eine Gebetsatmosphäre entstehen, die Gläubigen sollen die Möglichkeit haben zu einem kurzen persönlichen, stillen Gebet, das nicht unbedingt in Worte gefasst sein muss.

Einen besonderen Stellenwert hat das betende Schweigen beim Fürbittgebet. Wenn die Fürbitten dergestalt vorgetragen werden, dass sie keine konkrete Bitte beinhalten (z.B. „Für alle, die sich für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen…“) ist eine Stille vor dem Gebetsruf, in der sich alle das vorgetragene Anliegen zu eigen machen können, unverzichtbar. Bei den Fürbitten in der täglichen Vesper ist vor der letzten Fürbitte für die Verstorbenen ausdrücklich eine Gebetsstille vorgesehen. Nicht unterbleiben sollte in der Eucharistiefeier, aber auch bei der Kommunionspendung außerhalb der Messe, die Gebetsstille nach dem Kommunionempfang, die dem persönlichen Gebet und der Danksagung Raum gibt.

Weitere besondere Stillemomente sind vorgesehen etwa am Beginn der Karfreitagsliturgie, wo eine tiefe Stille zusammen mit der Geste des Sich-Niederwerfens höchste Betroffenheit zum Ausdruck bringt. Oder die Gebetsstille bei der Handauflegung bei der Diakonen-, Priester- und Bischofsweihe. Bereits um das Jahr 215 schreibt der heilige Hippolyt von Rom: „Alle sollen schweigen und in ihrem Herzen um die Herabkunft des Heiligen Geistes beten.“ Seitdem legt der Bischof schweigend die Hände auf das Haupt der Weihekandidaten als Zeichen der Geistmitteilung. Die Gemeinde schließt sich dem im Gebet an. Immer, wenn Entscheidendes in der Liturgie geschieht, hat die Stille den Vorrang.

„Silence ist God’s first language – Das Schweigen ist Gottes Muttersprache“, hat Thomas Keating, ein amerikanischer Trappistenmönch unserer Tage, gesagt. Auch wenn wir unmöglich schweigen können über das, was wir gesehen und gehört haben (vgl. Apg 4, 20), sind Stille und Schweigen notwendig, um Gottes „Muttersprache“ wahrnehmen zu können, um dann von ihm sprechen zu können.