Erstellt am 19. Dezember 2022 von Korbinian Stegemeyer

Zehn Monate zu Gast in Jerusalem

„Wir sind nur Gast auf Erden“ – an diesen Beginn eines bekannten Kirchenlieds musste ich im vergangenen Studienjahr immer wieder denken. Von Ende September 2021 bis Ende Juli 2022 lebte, betete und studierte ich mehr als 2500 Kilometer Luftlinie von München entfernt in Jerusalem. Dass ich dort nur Gast war, machte mir meine Umgebung auf Schritt und Tritt bewusst: Bereits das Wetter auf knapp 800 m Höhe zwischen Mittelmeer und Wüste überraschte meine mitteleuropäischen Gewohnheiten immer wieder. Ob die Menschen auf der Straße nun gerade Arabisch oder Hebräisch sprachen – ich verstand sie in jedem Fall nicht. Und je mehr ich mit dem Alltag dieser Stadt zwischen Freitagsgebet und Schabbat, zwischen amerikanischer Shopping Mall und orientalischem Suq, zwischen jungen Soldatinnen mit Maschinengewehren und alten Männern im Kaftan vertraut wurde, desto mehr wurde mir bewusst, dass ich hier als Christ und Europäer Teil einer einigermaßen akzeptierten, aber überwiegend bedeutungslosen Minderheit war – und das auch nur auf Zeit. Trotzdem begann ich mir im Laufe dieses Auslandsaufenthalts die Frage zu stellen, ob das Wörtchen „nur“ aus der Liedzeile meine Erlebnisse in der Heiligen Stadt wirklich gut beschreibt. Ich war schließlich nicht nur ein Fremder, sondern durfte Tag für Tag das Privileg erleben, als Gast aufgenommen zu werden! Aus der Erfahrung möchte ich hier einige Eindrücke teilen.

Konvent und Kirche St. Etienne

Zu Gast in Frankreich

Die École biblique et archéologique française de Jérusalem war meine Gastgeberin. Seit 1890 lädt diese Einrichtung keine 500m nördlich des Damaskustors der Altstadt dazu ein, die Bibel in engem Kontakt mit der geschichtlichen und kulturellen Umgebung zu studieren, aus der sie hervorgegangen ist. Bei meiner Ankunft fand ich nicht einfach eine Bildungsinstitution französischer Sprache vor, sondern einen Ort, der sich als Teil der Vertretung der Grande Nation im Nahen Osten versteht. Franzosen können in dieser Region die Kontinuität ihrer Geschichte erleben: Seit der Kreuzfahrerzeit verstand sich der französische König und später auch die Republik als Schutzherr der westlichen Christen im Heiligen Land. In und um Jerusalem gibt es ein Netz katholischer Kommunitäten französischen Ursprungs, die in regem Austausch untereinander stehen. Drei davon sind auf Grundstücken angesiedelt, die unter der Hoheit Frankreichs stehen.

  Auf der Festung Machaerus in Jordanien mit Blick auf das Tote Meer

Für mich hatte diese Konstellation zur Folge, dass ich an der École biblique mindestens so sehr Gast in Frankreich wie in Israel war. Meine Sprachkenntnisse aus der Mittelstufe des Gymnasiums reichten zu Beginn nur für holprige Sätze und angestrengtes Zuhören – Vokabel für Vokabel, Ausdruck für Ausdruck wurde mir die Lebens- und Denkwelt meiner Mitbewohner zugänglich. Die Perspektiven, die ich so kennenlernte, waren keineswegs einheitlich: Neben jungen Priestern und Ordensleuten im biblischen Masterstudium setzte sich unsere etwa fünfundzwanzigköpfige Studentengruppe u.a. aus einer erfahrenen Bibliothekarin, einem angehenden Museumskurator, zwei Altphilologinnen und mehreren Archäologen zusammen. Alle diese Biographien tragen jedoch einen französischen Stempel, weil sie aus Adels-, Militärs- oder Stadtfamilien hervorgegangen sind, von Collège, Lycée und Grande École geprägt wurden und sich in der Spannung zwischen Paris und Provinz abspielten… Als Gast unter Franzosen wurde mir bewusst, wie viele Erfahrungen und Gewohnheiten mich zu einem Deutschen machen!

Zu Gast im Dominikanerorden

Getragen wird die École biblique von einem internationalen Dominikanerkonvent, der direkt der Ordensleitung in Rom unterstellt ist. Etwa die Hälfte der fünfundzwanzig Brüder sind als Professoren oder Dozenten tätig, weitere arbeiten in der Verwaltung oder gehen einem Promotionsstudium nach. Mit ihnen teilten wir nicht nur Seminarräume und die umfassendste exegetische Bibliothek des Nahen Ostens. Im großen Speisesaal essen mittags alle gemeinsam und in der Kirche ist ein Teil des Chorgestühls für die Gäste reserviert. In München bin ich es gewohnt, dass Gebet und Gemeinschaftsleben unter den Mitbrüdern im Priesterseminar seinen Ort haben, während das Studium uns an die LMU und zu unseren Mitstudenten führt. In Jerusalem durfte ich erleben, wie diese Aspekte meines Leben in einem großen gemeinschaftlichen Zusammenhang Platz finden.

Fest des Heiligen Dominikus in der Dominikanerkirche in Jerusalem

So konnte ich in die dominikanische Haltung „Contemplata aliis tradere“ – „Aus der Betrachtung anderen weitergeben“ eintauchen und es mir zu eigen machen: Das wissenschaftliche Interesse an der Bibel und ihrer Welt kann durch die lebendige Begegnung mit Gott motiviert sein und wieder zu ihr führen. Und wer eine solche Gottesbeziehung lebt, nimmt selbstverständlich auch die Mitmenschen in den Blick und möchte ihnen ebenfalls diese Freude zugänglich machen. Nach zehn Monaten als Gast in einem Dominikanerkloster habe ich eine Haltung eingeübt, die ich nicht mehr missen möchte!

Zu Gast im Patriarchat von Jerusalem

Das kirchliche Leben in Jerusalem ist nicht nur vom Ablauf des liturgischen Jahres geprägt, sondern auch von den Heiligen Stätten, an denen der Ereignisse des Lebens Jesu gedacht wird. An den entsprechenden Festtagen finden dort große Gottesdienste statt, meist mit dem lateinischen Patriarchen von Jerusalem und einer bunten Gemeinde von Pilgern, lokalen Christen und Gläubigen aus den Gruppen und Gemeinschaften, die in Jerusalem ansässig sind. Wie sonst wohl nur in Rom kommen so Katholiken aus allen Kontinenten zusammen und Weltkirche wird erlebbar. Ein Höhepunkt meines Aufenthalts war die große Prozession vom Ölberg in die Altstadt am Palmsonntag: Palästinensische Pfadfinder, Tanzgruppen aus spanischsprachigen Ländern, die verschiedenen Trachten der unzähligen Frauenorden, dazwischen Franziskaner aus der ganzen Welt… und mittendrin gehen wir mit einer Gitarre und einem improvisierten Lautsprecherwagen, französische Lobpreislieder singend. Gerade in einer Stadt, in der Menschenmassen sonst eher Konflikt und Gefahr bedeuten, war die Freude überwältigend, so den Glauben an den Friedenskönig zum Ausdruck zu bringen!

Kurz vor dem Aufbruch der Palmsonntagsprozession

Im Laufe der Zeit lernte ich einige Gesichter aus dieser großen Gemeinde kennen: Da war eine junge Chinesin, die sich darauf vorbereitet, in ihrer Heimat an einem Priesterseminar Altes Testament zu unterrichten. Sie nutzt die Zeit zwischen ihrem Doktorat und ihrer Rückkehr nach China, um wichtige christliche Stätten kennenzulernen – später wird ihr die chinesische Führung als aktiver Katholikin wahrscheinlich die Ausreise verweigern. Ein junger Pater aus Nigeria berichtete mir, dass er seinen Heimaturlaub verschieben musste, weil dort die Zahl der Entführungen stark zugenommen hat und für einen Priester schon der Gang in Richtung Kirche gefährlich ist. Immer wieder konnte ich mit Katholiken aus den USA sprechen, die sich Gedanken machen, wie sie sich in der stark polarisierten gesellschaftspolitischen Debatte ihrer Heimat positionieren können. Als Gast im Patriarchat von Jerusalem war ich Gast in der Weltkirche: Ich habe erlebt, wie der Glaube an Jesus Christus bei ganz unterschiedlichen Menschen Kräfte freisetzt, auch in gefährlichen oder schwierigen Situationen. Das hat mir Mut auf dem Weg meiner Berufung Mut gemacht!

Zu Gast bei Judentum und Islam

Das Gelände der École biblique liegt keine 150 Meter von der Waffenstillstandlinie von 1949 entfernt. Auch wenn sich dort seit 55 Jahren keine militärische Grenze mehr befindet, dauert die gesellschaftliche und kulturelle Aufteilung Jerusalems in einen israelischen und einen arabischen Teil an. In Ostjerusalem sind Männer mit Kippa nur als Soldaten der Grenzpolizei anzutreffen und in Westjerusalem sind kaum Frauen mit Hijab zu sehen. Nur wir Ausländer sind in beiden Welten gern gesehen und können ohne Probleme hin und her wechseln. Okzident und Orient liegen in Jerusalem nur ein paar Straßenzüge voneinander entfernt!

Vom Dach des österreichischen Hospiz in der Altstadt

Dieses Nebeneinander zweier völlig verschiedener Lebenswelten ist auch der Nährboden, in dem Hass und Gewalt sich fortpflanzen können. Als Außenstehender zu beobachten, dass das Leben der Heiligen Stadt häufig ein eingespieltes „Einander aus dem Weg gehen“ ist, kann gelegentlich bedrückend sein… Besonders war das an jedem Freitag erlebbar: Am Nachmittag kommen Muslime mit Teppichen unter dem Arm auf dem Rückweg vom Gebet in der Al-Aqsa-Moschee am Tor der École vorbei. Am frühen Abend strömen dann große Gruppen von jüdischen Männern mit Schläfenlocken, in schwarzen Gehröcken und mit Pelzhüten aus den nahe gelegenen ultra-orthodoxen Vierteln in die andere Richtung, um an der Westmauer des Tempelbergs den Schabbat zu beginnen. Wenn sich Einzelne doch begegnen, würdigt man sich keines Blickes.

Interessant ist, dass dieses Nebeneinander von einem stillschweigenden Konsens getragen wird: Religion soll einen zentralen Platz im persönlichen, wie im öffentlichen Leben spielen. Feindseligkeiten gibt es zwischen den Religionsgemeinschaften, aber nie gegen Religiosität als solche. Erst weit in Westjerusalem wird die Dichte religiöser Zeichen geringer. In der Rückschau merke ich, wie ich als Gast in einer tiefgläubigen Umgebung etwas von der Scheu ablegen konnte, die die persönliche Weltanschauung in unserer westlichen Gesellschaft umgibt.

Zu Gast in der Heimat Jesu

Zur Omnipräsenz von Religion in Jerusalem gehört auch eine große Zahl christlicher Kirchen aller Konfessionen. Nicht alle sind geschmackvoll gestaltet und kaum eine bietet wirklich eine Rückzugsmöglichkeit weg von der betriebsamen Unruhe der Straßen und den Pilgergruppen, die überall eindringen. Doch der mehrmonatige Aufenthalt erlaubte mir auch, weniger bekannte Orte zu entdecken und vor allem eine persönliche Beziehung zu den Heiligen Stätten aufzubauen. Woche für Woche erarbeiteten wir uns im Topographie- und Archäologiekurs der École biblique die Entwicklung Jerusalems durch die Jahrhunderte. Immer mehr gewöhnte ich mich daran, beim Gang durch die Stadt nicht nur auf den gegenwärtigen Zustand zu achten, sondern auch zu bedenken, wie es zu ihm kam.

  Auf Ausgrabungsbesuch

Und damit trat mir immer mehr ins Bewusstsein, dass ich mich tatsächlich auf dem Flecken Erde bewegen durfte, auf dem Jesus selbst unterwegs war, der für ihn schon ein heiliger Ort war. Hier hat er das Leiden der Menschen bis zum Ende geteilt, hier hat er sein Leben in die Hände des Vaters gegeben, hier ist er auferstanden! Jetzt konnte ich die vielen Kirchen so wahrnehmen, wie sie gedacht sind: Als Räume, in denen man sich zu Herzen nehmen kann, dass Gottes Sohn auf dem Landstrich, den wir heute Heiliges Land nennen, ein menschliches Leben geführt hat – ein Leben wie meines. Dabei kommt es nicht darauf an, dass jede Kirche genau am richtigen historischen Ort steht, sondern darauf, dass die persönliche Verbindung zu dem jeweiligen Ereignis vertieft werden kann. Das große theologische Konzept ‚Inkarnation‘ ist für mich nun mit Orten und Erinnerungen verknüpft.

In das Zuhause eines Menschen eingeladen zu werden, eine Führung durch die Wohnung eines anderen Menschen zu bekommen, bedeutet häufig den Beginn einer Freundschaft oder einen Schritt zu ihrer Vertiefung. Man weiß nun, mit was jemand sich umgibt, wo er sich täglich aufhält. Zehn Monate in Jerusalem gelebt zu haben, bedeutet für mich vor allem, das Land Jesu intensiv kennengelernt zu haben, in seiner Heimat Gast gewesen zu sein. Ich habe mich an den Orten aufgehalten, an denen er gearbeitet, gepredigt, gegessen, geheilt, gelitten hat… Das führt nicht automatisch zu einer engeren Verbindung mit ihm, ist aber ein guter Ausgangspunkt. Ja, wir sind nur Gast auf Erden und ich war nur Gast in Jerusalem. Aber als Gast kann man sich selbst kennenlernen und Verbindungen knüpfen, die weitertragen!

Im Kreuzgang der Pater-Noster-Kirche auf dem Ölberg