Erstellt am 7. Juli 2022 von Subregens Dr. theol. Benjamin Bihl

Berufung – Was soll das?

In den letzten Wochen erschienen auf der theologischen Onlineplattform feinschwarz.net zwei Artikel von Prof. Wintzek aus Mainz über die theologische Reflexion zum Verständnis von Berufung. Das deckt beide Bereiche meiner täglichen Arbeit ab. Als Subregens bin ich für die Ausbildung zukünftiger Priester zuständig. Dabei geht es darum, ob die Seminaristen bei sich eine Berufung zum Priesteramt wahrnehmen und für die Regentie geht es als Vertreter der Kirche darum zu klären, ob wir eine solche Berufung für glaubwürdig halten. Auf der anderen Seite muss ich mich als Lehrbeauftragter an der theologischen Fakultät von akademischer Seite mit diesem Thema auseinandersetzen. Was macht den Artikel von Prof. Wintzek so besonders, dass er mich zum Verfassen dieser Zeilen bringt?

Ein paar Spitzensätze des Professors mögen meine Motivation verdeutlichen:

„Stattdessen will ‚Berufung‘ glauben machen, dass es so etwas wie eine göttliche Vorabentscheidung gibt, die es dann nur zu ratifizieren gilt.“ (Wintzek, Berufung)

„Priestertum kann man sich selbst heraussuchen.“ (Wintzek, Berufung II)

„Nicht Gott beruft, ich berufe mich auf ihn in meinem Lebensentwurf.“ (Wintzek, Berufung II)

 

  1. Macht Gott mich unfrei?

Mit dem ersten Spitzensatz setzt sich Prof. Wintzek von der Vorstellung einer Berufung ab. Dieser Satz verweist auf die große Frage, wie sich denn unsere menschliche Freiheit und die Allmacht, Allwissenheit und Vorsehung Gottes zueinander verhalten. Es handelt sich um das klassische Problem der Gnadenlehre. Der Gegensatz zwischen zwei freien Entscheidungen, die sich bei einer Berufung angeblich zeigen, überzeugt mich nicht. Tritt jemand an mich heran und sagt mir, was ich zu tun habe, ich aber etwas anderes will, dann haben wir einen Konflikt. Aber dieser Konflikt setzt immer voraus, dass die beiden Akteure auf der gleichen Ebene stehen. Heutzutage spricht man von Augenhöhe. Sie sei das Ideal aller Kommunikation. Aber mit Gott sind wir nie auf Augenhöhe. Am Anfang der Genesis wird jene Geschichte erzählt, in der Adam (der Mensch) und Eva (das Leben) mit Gott auf Augenhöhe sein wollen. Der Erfolg dieser Idee ist hinreichend bekannt.

Wir Menschen sind mit Gott niemals auf Augenhöhe. Wie stehen wir dann zu Gott? Augustinus  hat eine der wunderbarsten Berufungsgeschichten in seinen biografischen Bekenntnissen niedergelegt. Auch wenn der Kirchenväter der viel gescholtene Begründer der Gnadenlehre ist, bleibt seine geistliche Erfahrung prägend für das Verständnis der Gnade. Bei seiner Suche nach Gott gelangt Augustinus zu einem wunderbaren Moment der Klarheit: „Du aber warst innerlicher als mein Innerstes und höher als mein Höchstes.“ (Augustinus, Confessiones III,6) Auf dem Weg in sein Innerstes entdeckt Augustinus, dass das Beste, was er für sich wollen kann, das ist, was Gott für ihn will. Für diesen einen Moment der Klarheit besteht das „Problem“ der Gnadenlehre nicht. Unabhängig davon, was aus seinen Überlegungen zum Wirken Gottes und der Freiheit des Menschen gemacht wurde, diese Erfahrung bleibt.

Wäre es nicht eigenartig, wenn Gott und unsere Freiheit Feinde wären? Das muss man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen. Dann wäre entweder unsere Freiheit eine Ausgeburt des Bösen oder Gott wäre der Böse, der uns unterdrücken möchte. Wenn das Freiheit sein soll, weiß ich nicht, warum Theologen diese weiterhin zum Kernbegriff ihrer Theologie machen. Wenn uns unsere Freiheit nicht auf den Weg zu Gott führt, sondern uns um uns selbst kreisen lässt, wäre sie nur eine Chiffre für die sinnlose Verlorenheit des Menschen in sich selbst. Entweder erhält unsere Freiheit ihre Würde von Gott oder sie bringt uns nichts. So bleibt mir auch dieses Bonmot von Prof. Wintzek ein Rätsel: „Berufung wäre göttliches Diktat unter dem Anschein der eigenen Biographie“ (Wintzek, Berufung II).

Natürlich bedeutet das nicht, dass jede unserer freien Entscheidung göttlich ist. „Es geht nicht an, diese subjektiv vermittelte Gewissheit mit dem Etikett göttlicher Unfehlbarkeit zu versehen.“ (Wintzek, Berufung) Dem kann ich nur zustimmen, muss allerdings zugeben, nicht zu wissen, wo sich solche überzogenen Berufungsvorstellungen in großem Umfang finden. Sicherlich mag es das geben, aber mir begegnet das nicht als Normalzustand in der Berufungsunterscheidung. Da ich mich hauptamtlich mit dieser Frage beschäftige, halte ich meine Beobachtung für recht aussagekräftig. Also gegen welchen intellektuellen Gegner tritt der Professor hier an? Immerhin hat er am Anfang jeden in der Kirche zum Adressaten gemacht, der von Berufung spricht. So eine Rede und Praxis zur Berufung ist wahrlich nicht der Normalzustand.

 

  1. Berufung und Kirche

Als Subregens freue ich mich natürlich auch über die wertschätzende Worte über die Priesterseminare und ihre Kriterien, die nicht allein übernatürlich sind: „Erfreulich ist dies alles insofern, als dass hier die übernatürliche Ebene des theologisch Vagen und Strittigen eines berufenden Gottes verlassen wird, und es stattdessen mit natürlichen Dingen zugeht.“ (Wintzek, Berufung II) Ja, im Priesterseminar geht es auch um ganz natürliche Dinge. Die Frage nach der persönlichen und emotionalen Reife von Kandidaten macht sich teils an recht banalen Dingen fest und kann sich ganz alltäglich zeigen oder eben auch nicht. Aber kann man überhaupt zwischen der übernatürlichen und der natürlichen Ebenen so einen klaren Schnitt machen? Sicherlich sind beide Ebenen nicht identisch, aber wenn wir vom Glauben leben, dass der ewige Sohn Gottes Mensch geworden ist, dann hat Gott sich eben auch an unsere natürliche Wirklichkeit gebunden. Wir kontrollieren Gott nicht, wir können nie mit absoluter Gewissheit von ihm sprechen, aber er ist uns darin dennoch niemals fern. Aus natürlichen und manchmal auch banalen Zeichen und Momenten kann sich eine größere Linie unseres Lebens abzeichnen. Das alles setzt natürlich voraus, dass die Frage nach der Berufung kein Unterfangen eines einsamen Ichs ist, sondern sich in Gemeinschaft vollzieht. Aber bei der Priesterweihe sagt nicht nur der Kandidat ja zu diesem Dienst und zur konkreten Ortskirche, sondern die Vertreter der Ortskirche sagen auch ja zu ihm. In dieser Zustimmung bündeln sich Beobachtungen und Hilfestellung vieler Begleiterinnen und Begleiter. Es ist niemals das Ja des Einzelnen gegenüber Gott, wenn man Priester wird. Dagegen Wintzek: „Nicht Gott beruft, ich berufe mich auf ihn in meinem Lebensentwurf.“ (Wintzek, Berufung II)

Warum kommt hier nur das „ich“ vor? Jemand, der das Priesteramt so versteht, hätte bei uns sicherlich mit einigen Fragen zu rechnen. Wenn es letztlich beim Priester-Sein nur um mich und meinen Lebensentwurf geht, was unterscheidet das vom Klerikalismus? Wenn es dazu kein Ja der konkreten Kirche gibt, dann macht man sich selbst zum Priester. Wintzek kritisiert den geistlich überdrehten Individualismus einiger Gläubiger und verrennt sich jedoch selbst in einen Individualismus. Ist der Geist erst einmal aus der Flasche, bekommt man ihn nicht wieder hinein. Wintzeks Gegenentwurf atmet denselben individualistischen Geist wie jene Position, die er so leidenschaftlich verwirft. Ich höre schon den Widerspruch. Seine Sicht gibt der freien Entscheidung kein unfehlbares göttliches Gewicht. Das stimmt. Der Preis dafür ist jedoch, dass Gott als aktiver Beteiligter ganz aus seiner Gleichung gestrichen wurde. Der Weg, den Wintzek vorschlägt, ist nicht gefährlich. Er ist nicht der Versuchung ausgesetzt, sich zu viel herauszunehmen. Es ist jedoch ein einsamer Weg mit einem passiven, harmlosen, schweigenden Gott. Ein Gott, der genauso gut tot sein könnte; ein Unterschied wäre nicht mehr wahrzunehmen. Frei nach dem Motto: Wer glaubt, ist immer allein.

 

  1. „Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs, nicht der Philosophen und Gelehrten.“ (Blaise Pascal, Memorial)

Nun möchte ich Herrn Prof. Wintzek gar nicht vorwerfen, eine destruktive Ader zu haben, da er einen eigenen Vorschlag erarbeitet hat. Der Kern dieses Vorschlags macht sich an seinem Gottesverständnis fest. Ich möchte dies ausführlich zitieren, um dem Professor kein Unrecht zu tun. „Gott ist keine fixe Größe, sondern ein unendlich andockfähiges Sinnpotential, ein attraktives Motiv, ein Warnschild vor ideologischen Verkennungen einer offenen Zukunft, ein unendliches Gerücht, das den Menschen in Atem hält und atmen lässt.“ (Wintzek, Berufung II)

Ein solcher Gott beruft sicherlich nicht. Das liegt vor allem daran, dass Prof. Wintzek den Bereich der personalen Gottesbeschreibung hinter sich lässt, das aus dem Begriffsfeld von Beziehungen sein Vokabular für die Gottesrede bezieht. Zu diesem Gott, den Prof. Wintzek sich vorstellt, kann man jedoch keine Beziehung haben. Ich möchte so weit gehen und die These aufstellen, dass man an diesen Gott nicht einmal mehr glauben kann. Gott ist zu einer Funktion des menschlichen Selbstvollzugs geworden. Er ist ein „unendlich andockfähiges Sinnpotential“. Diese erhabene Redeweise ist jedoch wenig erhebend, denn Gott scheint einfach ein weißes Blatt Papier zu sein, auf das ich schreiben kann, was ich will. Ich weiß nicht, was mich an diesem Gott in Atem halten soll. Es ist ein langweiliger Gott, zu dem ich weder beten kann, mit dem ich nicht ringen kann und der mir nichts zu sagen hat. Meine Atemlosigkeit ist die Folge einer theologischen Schockstarre. Wintzek verlässt die Grundlage der biblischen Gottesrede. Die Stärke der biblischen Texte und des christlichen Glauben liegt darin, dass Gott sich uns als ein Du zeigt, dass wir ihm begegnen können, dass wir mit ihm hadern können, dass wir ihn lieben können. All das stammt aus der Gewissheit der Christenheit, dass uns dieser Gott zuerst geliebt hat.

So muss ich zur Frage des Titels zurückkehren: Was soll das? Mit aller Macht soll der Glaube anschlussfähig gemacht werden an eine Zeit, die vom Individualismus und Naturalismus geprägt ist. Aber auf diese Weise hat weder Kirche noch der Glaube unserer Zeit etwas zu sagen. In diese Zeit hinein, die unmusikalisch für Gott geworden ist, erleben viele junge Menschen eine Kirche, die ihren eigenen Glauben nicht mehr ernst nimmt. Junge Menschen erleben Gemeinden, die völlig überaltert sind und in denen sie sich nicht einmal mehr über das Mitmenschliche kirchlich sozialisieren können. Dennoch machen sich junge Menschen auf die Suche nach Gott. In dieser Erneuerung hat die Rede von „Berufung“ ihren Sitz im Leben. Was ist die Antwort der Theologie auf diese Bewegung? Prof. Wintzek hat sie als einen seiner Forschungsschwerpunkte, den er folgendermaßen beschreibt: „Die Evangelikalisierung des Katholischen als antiintellektueller Trend reaktionär populistischer Stoßrichtung“ (Homepage auf der Seite der Katholischen Hochschule Mainz). Kein Verständnis für die geistliche Situation unserer Zeit prägt diese Aussage, sondern das Urteil geht dem Argument voraus. Eine solche Theologie hat unserer Zeit nichts zu sagen. Sie korrigiert nicht, wo sich Dinge falsch entwickeln, sie unterstützt nicht, wo sich Schönes und Wahres zeigt; eine solche Theologie zertritt die zarte aufkeimende Pflanze des Glaubens bei diesen jungen Menschen. Sie redet von Freiheit und bringt gleichzeitig die geistlichen Fundamente dieser Freiheit zum Einsturz.

Solange in der Kirche noch jemand an den personalen Gott glaubt, den wir als den dreifaltigen Gott bekennen, muss die Kirche weiter von Berufung sprechen. Gott steht nicht im Widerspruch zu unserer Freiheit, sondern er will das Gute für uns, für jeden persönlich und sein ganzes Volk. Deshalb beruft er Menschen in seinen Dienst. Mir ist bewusst, dass diese analoge Gottesrede bei aller Ähnlichkeit immer eine größere Unähnlichkeit zur Wirklichkeit Gottes aufweist. Eine solche Redeweise über Gott ist nicht perfekt. Aber sie ist biblisch fundiert. Sie ist Bekenntnis zum lebendigen Gott.

 

Quellennachweis:

Prof. i. K. Dr. theol. Oliver Wintzek – https://www.kh-mz.de/hochschule/ansprechpartner-innen/lehrende-nach-fachbereichen/pt/oliver-wintzek/

Berufung – Plädoyer gegen ein Willkürkonzept – https://www.feinschwarz.net/berufung-plaedoyer-gegen-ein-willkuerkonzept/

Berufung (Teil II) – https://www.feinschwarz.net/berufung-teil-ii/#more-35787