Erstellt am 26. September 2018 von Korbinian Stegemeyer

Reise in die Zukunft? Seminarfahrt nach London

Der Flughafen Stansted liegt nordöstlich von London. Dort landete am Nachmittag des 15.09.18 eine Maschine mit 13 Münchner Seminaristen und der Hausleitung. Demzufolge war das Erste, was wir von London aus dem Shuttlebus in Richtung Innenstand zu sehen bekamen, das East End. Dabei handelt es sich um die Bezirke östlich des mittelalterlichen Stadtkerns. Im 19. Jhd. waren sie als Elendsviertel entstanden, in dem die Arbeiter hausen mussten, die die Industrialisierung nach London gelockt hatte. Heutzutage ist hier die Pluralität der Bevölkerung Londons zu erleben: Ohne erkennbare Ordnung folgen gesichtslose Wohnblocks, die an das Arbeiterviertel erinnern, hippe Neubauten, die billiges Wohnen versprechen, und große Moscheezentren aufeinander. Gastronomisch und modisch scheinen alle Kulturen der Welt vertreten zu sein und beim Aussteigen vernehmen wir alle möglichen Sprachen. Damit waren wir bereits angekommen bei den Fragen, die unsere Studienreise prägen würden: Obwohl auch genug Zeit für die touristischen Highlights Londons blieb, stand im Vordergrund, wie christliches Gemeindeleben in einer pluralen und säkularen Metropole gelingen kann – eine Frage, mit der auch die katholische Kirche in Deutschland konfrontiert ist bzw. konfrontiert sein wird. Das Wynfried House der katholischen deutschsprachigen Gemeinde war für unser Vorhaben ein optimaler Ausgangspunkt: Am Übergang vom Stadtzentrum ins East End gelegen, sind von dort aus sowohl die Sehenswürdigkeiten als auch die Londoner Wohnviertel gut zu erreichen.

Die folgenden fünf Tage waren geprägt vom Kennenlernen der anglikanischen Kirche und ihrer Versuche, Gemeinden neues Leben einzuhauchen. Anfangs brauchten wir etwas Zeit, um uns in das Selbstverständnis der Kirche von England hineinzudenken: Ihr wesentliches Merkmal ist eine nationale bischöfliche Hierarchie, die auf die britische Monarchin als Supreme Governor of the Church of England verwiesen ist. Unter diesem Dach sind Gemeinden von sehr unterschiedlicher theologischer Ausrichtung vereint: Während unseres Aufenthalts lernten wir sowohl eine hochliturgische Strömung kennen, für die die Feier der Sakramente und der Stundenliturgie im Vordergrund steht, als auch informelle Gemeinden, in deren Gottesdiensten überwiegend Verkündigung und Gemeinschaftsaufbau betrieben werden. Unter ihnen sticht Holy Trinity Brompton hervor, eine Gemeinde, die vor vierzig Jahren ihre Gottesdienste konsequent nach freikirchlichem Vorbild charismatisch ausgerichtet hat und seitdem großen Zulauf erhält. In unseren Breiten ist sie für die Alpha-Kurse bekannt, die dort entwickelt wurden. Für die anglikanische Kirche als Ganze ist die Gemeinde ein Ausnahmephänomen, ist doch ansonsten der Gottesdienstbesuch auf 2% der Kirchenmitglieder zurückgegangen! Inzwischen hat die offizielle Hierarchie das Potential von „HTB“ erkannt und einen ihrer Vertreter zum Weihbischof ernannt. Er leitet nun das Centre for Church Planting and Growth und ist dafür zuständig, dass florierende Gemeinden dort bei der Wiederbelebung helfen, wo der Untergang abzusehen ist.

Unsere Teilnahme an Gottesdiensten in Brompton und unsere Gespräche mit Weihbischof Ric Thorpe und seinen Mitarbeitern hinterließen einen ambivalenten Eindruck: Einerseits waren wir von der Vitalität und Offenheit der Gemeinden und ihrer Mitglieder beeindruckt. Wie schön wäre es, einiges von dieser Atmosphäre in den Gemeinden unseres Erzbistums zu erleben! Andererseits konnten wir die kritischen Anfragen nicht ignorieren, die bei näherem Hinsehen entstanden: Ist eine Methode bloß deshalb gut und angemessen, weil sie Gemeinden wieder füllt? Geht bei der radikalen Simplifizierung der Verkündigungsbotschaft nicht auch viel verloren? Führt der begeisternde Erstkontakt wirklich zu einem vertieften Leben als Christ? Die Begegnung mit „HTB“ wurde für uns also nicht in dem Sinne zur Reise in die Zukunft, dass wir einfach alle Ansätze und Strukturen übernehmen könnten. Allerdings fordert uns die entschiedene Hinwendung zu Menschen, die vom Evangelium nicht mehr erreicht werden, heraus, Wege in die Zukunft zu finden, die für das katholische Erzbistum München und Freising passend sind.

Der zweite Schwerpunkt unserer Reise lag auf der Begegnung mit der katholischen Kirche in London: Wie leben katholische Gemeinden in einer Stadt, in der der Katholizismus jahrhundertelang verfolgt oder zumindest verboten war, nun aber durch Migranten erheblichen Zulauf erhält? Unser Besuch im katholischen Priesterseminar und unser Treffen mit dem Erzbischof von Westminster, Vincent Kardinal Nichols, ließ uns einen selbstbewussten und entschiedenen Katholizismus erleben: Weil man nicht wie die Anglikaner Teil der nationalen Identität sei, könne man öffentlich einfacher Position beziehen und sich ansonsten darum bemühen, in Verkündigung und Liturgie den Kern des katholischen Lebens erfahrbar zu machen. Was das konkret bedeutet, erfuhren wir bei einem Gottesdienst in der Westminster Cathedral: Nach der lateinisch gesungenen Vesper fand ein gut besuchtes Hochamt mit Weihrauch und Messvertonung von Palestrina statt – freilich nicht an einem Sonntag, sondern an einem gewöhnlichen Montag im Jahreskreis! Auch der Londoner Katholizismus dürfte also nicht ohne Abstriche ein Bild unserer kirchlichen Zukunft sein, zeigt uns aber, dass es einen Versuch wert sein könnte, die Fülle und Tiefe der eigenen Tradition zugänglich zu machen!